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12.10.2020
October 12, 2020
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Axel Dietrich

XR und die Zukunft der Kommunikation

Im vergangenen Monat war Eva Fischer (Gründerin und künstlerische Leiterin des renommiertesten Wiener Festivals sound:frame sowie eine der Schlüsselfiguren in der audiovisuellen und immersiven Kunstszene) Gastgeberin einer Podiumsdiskussion mit dem Titel „Virtuelle und Erweiterte Realität als künstlerisches Medium und Kommunikationsmittel“. Das Hauptanliegen des Podiums war, sich über virtuelle Realität (VR) als neues Werkzeug für digitale künstlerische Ansätze sowie zur Schaffung immersiver Erfahrungen auszutauschen und sie damit auch als ein brandneues Kommunikationsmedium zu betrachten.

vrisch-Mitbegründerin und CXO Gabriella Chihan Stanley wurde die Ehre zuteil, an der Diskussion teilzunehmen. Gabriella ist die Kommunikationsmanagerin von vrisch sowie Gründerin und Organisatorin der XRVienna-Community. Die zwei anderen Experten auf dem Gebiet der virtuellen und erweiterten Realität (XR) waren Dr. Franziska Bruckner (Leiterin des Forschungsinstituts Creative/Media\Technology an der Fachhochschule St. Pölten und der immersive Künstler Gregor Ladenhauf, Mitglied des renommierten Wiener Künstlerduos DEPART. Die vom Podium behandelten Fragen haben uns allen viele Denkanstöße gegeben. Der Umfang und die Vielfalt des während dieser 45 Minuten ausgetauschten Wissens ermutigte die Anwesenden tiefer in einige der Fragen einzutauchen.


Damit auch andere XR-Autoren sowie alle, die an der Entwicklung einer VR-Erfahrung interessiert sind, daran teilhaben können, beschloss Gabriella, ihre Antworten zusammenzustellen und sie auch hier zu veröffentlichen. Nun hoffen wir, dass wir die Leser*innen dazu inspirieren können, das volle Potenzial von XR zu nutzen und den Grundstein für starke, aussagekräftige und unvergessliche XR-Erfahrungen in der Zukunft zu legen.

Von links nach rechts: Eva Fischer (sound:frame), Franziska Bruckner (FH St. Pölten) und Gabriella Chihan Stanley (vrisch).

Warum ist dieses Medium für Sie als Kommunikationsmanagerin im XR-Bereich so interessant?


Gabriella: XR im Kontext der Kommunikation ist für mich aus 2 Gründen spannend: Erstens wegen der Vielseitigkeit. Wenn wir zum Beispiel XR einsetzen, um viele Menschen gleichzeitig zu verbinden, sprechen wir über XR als Kommunikationsmedium. Wenn wir XR jedoch im Kontext eines einzelnen Benutzers verwenden, haben wir es mit Kommunikation als Schnittstelle zu tun. In beiden Fällen geht es um eine neue Art der Kommunikation, sei es miteinander oder mit uns selbst. Das ist für mich sehr spannend, denn XR ist ein neues Instrument, mit dem Realität auf einer anderen Ebene wahrgenommen wird. Was mich zu meinem zweiten Punkt bringt: den Möglichkeiten.

Immersive Technologien, insbesondere VR, bieten uns neue Möglichkeiten, einen Raum mit jemand anderem zu teilen. VR ermöglicht uns, mit einem neuen Gefühl der Präsenz aus Erfahrungen neue Erinnerungen aufzubauen. Kurz gesagt, wir können sie dazu nutzen, unsere menschlichen Fähigkeiten jenseits der Bedürfnisse unseres physischen Körpers zu erweitern. All dies sind Dinge, die ich persönlich faszinierend und interessant genug finde, um daraus einen Beruf zu machen.

Sie haben einmal gesagt, dass Ihnen der Begriff „Empathie-Maschine“ nicht besonders gefällt. Warum?


Viele Leute bezeichnen VR als die „ultimative Empathie-Maschine“, ich persönlich habe in dieser Hinsicht zwiespältige Gefühle. Für mich wird die ultimative „Einfühlungsmaschine“ immer das gute Storytelling bleiben, die Fähigkeit des VR-Autors, die Zuschauer hin zu einer Reihe von intimen Schlüsselmomenten zu führen. Die Kombination dieser beiden Elemente führt dazu, dass die Zuschauer eine persönliche Bindung zu den Inhalten aufbauen, die sie erleben. Verschiedene Medien bieten spezifische Möglichkeiten. VR eröffnet mit Sicherheit ein neues Kapitel in der Art und Weise, wie wir Geschichten erfahren, sie assimilieren und uns an sie wegen ihrer immersiven Qualität erinnern. Durch die Intensität der Immersion betrachten wir bestimmte Situationen von einer viel höheren Ebene aus und verstehen sie sozusagen aus nächster Nähe.

Obwohl VR ein mächtiges Werkzeug ist, ist sie jedoch meiner Meinung nach allein (noch) nicht in der Lage das ganze Bild einer Situation zu vermitteln, um damit Empathie zu erzeugen.
Einfühlungsvermögen ist der Prozess, die Situationen anderer Menschen so zu verstehen, als wären es unsere eigenen. Bildhaft ausgedrückt: Können neun in einer Einzelhaftzelle verbrachte Minuten uns vollständig verstehen lassen, was ein Gefangener fünf Jahre lang dort empfunden hat? Oder kann die Erfahrung, einen Tag lang obdachlos zu sein, das Gefühl des Ausgesetztseins und der Angst vor weiteren 365 Tagen Obdachlosigkeit abbilden? Wir können uns natürlich vorstellen, wie es sich angefühlt haben muss, und unsere eigene Version davon schaffen. Aber diese Vorstellung wird immer noch nicht das ganze Bild wiedergeben. Vielleicht ist meine Antwort auf diese Frage kein „Nein“, sondern ein „Noch nicht“.

Einfühlungsvermögen ist ein Prozess. Und für mich ist VR eher ein potentielles Tor zum Einfühlungsvermögen aber keine Empathie-Maschine an sich. VR kann unser Interesse an Beziehungen zu anderen Menschen verstärken, so dass wir nach dem Erlebnis über sie nachdenken und mehr über ihre Situation erfahren wollen. Wir werden neugierig und wollen besser verstehen. Es setzt ein Prozess der Entdeckung ein. Wir bekommen ein Werkzeug des Verstehenkönnens in die Hand gelegt.

Im Gespräch mit dem Publikum auf der anderen Seite des 360-Grad-Videostreams während eines der XRVienna-Events

Während der Meetups von XR-Vienna verwenden Sie oft eine 360-Grad-Kamera, um die Events auf eine ganz besondere Art und Weise festzuhalten. Würden Sie uns ein wenig mehr über Ihre Vorgehensweisen erzählen?


Dieses Vorgehen entspringt meinem Wunsch, mit 360-Grad-Videos als Medium zu experimentieren. Konkret geht es darum, Wege zu finden, wie eine Geschichte erzählt werden kann und zugleich neue Aspekte des Potenzials zu entdecken, das 360-Grad-Videos als neues Kommunikationsmittel haben. Denken Sie zum Beispiel an den Blickkontakt. Dieser ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für sinnhafte Verbindungen. Während der Events versuche ich, mit der Kamera so zu interagieren, als wäre sie selbst eine Teilnehmerin. Ich rede mit ihr, esse vor ihr, zeige auf den/die Redner*in und nicke zustimmend mit dem Kopf. In gewisser Weise ist das ein kleines Experiment, um zu sehen, wie nahe wir dem Publikum auf der anderen Seite des Streams kommen und ein aussagekräftiges Event daraus machen können. Ich will dabei nicht genau das wiedergeben, was man als Teilnehmer*in des Events womöglich erfahren kann. Stattdessen versuche ich etwas Besonderes und zugleich Nutzbringendes für die Person auf der anderen Seite des Streams zu generieren.

Ich habe kürzlich ein Buch über die Entstehung des Silicon Valley gelesen. Dabei ist mir am meisten aufgefallen, dass so viele Technologien scheitern, weil sie irgendwie vergessen, dass auf der anderen Seite des Geräts ein Mensch sitzt. Wenn wir die Menschen mit ihren Gefühlen, Bedürfnissen und Reaktionen auf der anderen Seite vergessen, dann erzeugen wir nur eine Darstellung von Technologie-Inhalten. Und Technologien neigen dazu, schnell zu veralten, weshalb wir dazu verdammt sind, in immer kürzeren Abständen neue Technologie-Inhalte zu erschaffen. Ein Beispiel gefällig? Denken Sie an die vielen 3D-Filme, die Sie gesehen haben, in denen Ihnen irgendein Gegenstand ins Gesicht geworfen wird, um Sie zu erschrecken. Einmal ist das lustig. Zweimal ist auch noch okay. Beim dritten Mal rufen Sie aber: „Ich will hier raus!“

Was würden Sie jemandem empfehlen, der mit der Produktion von VR-Content beginnen möchte?

  1. Zunächst überlegen, ob das Projekt in VR Sinn macht. Könnte es auch auf anderen Wegen realisiert werden? Wenn dem so ist, sollten man die gegebenen Möglichkeiten vielleicht etwas genauer untersuchen. Wenn es keinen signifikanten Mehrwert darstellt, Menschen in eine virtuelle Welt zu transportieren, sollte man bei dem bleiben, was man kennt, oder den Schritt Richtung Innovation.
  2. Berücksichtigen Sie, dass ein VR-Projekt viel mehr ist als nur die virtuelle Erfahrung selbst. Überlegen Sie, wie Sie die Menschen auf die Erfahrung und die virtuelle Umgebung vorbereiten werden, wie Sie die Menschen hineinführen, wie der Plan B aussieht für den Fall, dass ihnen schlecht wird oder sie es hassen, und auch, welche Emotionen nach der Erfahrung entstehen können.
  3. Sicherheiten einbauen. Das kann vieles bedeuten, nennen wir nur einige davon. Sorgen Sie für einen großartigen VR-Prozessbegleiter, der sich um die Menschen kümmert, die Ihr VR-Projekt erleben. Geben Sie Ihrem Publikum das Gefühl, dass sie sich in einem sicheren und freundlichen Ambiente aufhalten. VR ist ein intimes Medium, und viele Menschen fürchten sich davor, dass sie sich von der Welt abschotten müssen, um es auszuprobieren. Seien Sie sich dessen bewusst und bieten bei Bedarf Zuwendung.
  4. Meine persönliche goldene Regel: Keine mittelmäßigen Inhalte produzieren. Qualität ist für das Mainstream-Publikum entscheidend, damit VR angenommen, die Zukunft dieser Technologie geschützt und ihr Potenzial voll ausschöpft wird. Der Profit sollte nie auf Kosten von Werthaltigkeit gehen. Wenn ein Kunde oder eine Person zu Ihnen kommt und nach dem ultimativen VR-Erlebnis fragt, so müssen Sie von vornherein die Grenzen der Technologie klarstellen und einschätzen, ob sich die gehegten Erwartungen mit der Realität decken.
    Versprechen Sie nie etwas, was Sie nicht halten können. Lassen Sie sich dennoch nicht davon abhalten, mit VR zu experimentieren, und geben Sie immer 200%.
Berücksichtigen, dass ein VR-Projekt viel mehr ist als nur die virtuelle Erfahrung selbst.

Wie wird die Zukunft der Kommunikation aussehen? Wie wird XR unsere Kommunikation verändern – als Künstler*innen, als Unternehmer*innen, als Menschen?

Immer wenn ich an die Zukunft von XR im Bereich Kommunikation denke, fällt mir ein, wie die Mobilfunktechnologie die Art und Weise verändert hat, wie wir heute miteinander interagieren. Wie viele von uns erhalten heutzutage lieber eine Textnachricht statt eines Telefonanrufs, wenn die Nachricht unerwartet kommt? Oder wann haben wir uns das letzte Mal eine Telefonnummer gemerkt? Mobilfunktechnologien (und übrigens auch die sozialen Medien) haben die Art und Weise, wie wir Informationen untereinander austauschen, verändert und eine ganz neue Art der gegenseitigen Wahrnehmung hervorgebracht. Manche mögen einwenden, dass die Kommunikation zwar direkter, aber nicht unbedingt besser geworden ist.

Wenn es um die potenziellen Auswirkungen von VR als Kommunikationstechnologie geht, glaube ich, dass es zu einer sozialeren Nutzung von XR kommen wird. Dabei spielen nicht nur die visuellen Aspekte, sondern auch Haptik, Mobilität und sogar Gerüche eine Rolle. Menschlichen Beziehungen, unserem Verhältnis zur Natur und sogar Gegenständen können dadurch neue Dimensionen gegeben werden.

Das Gefühl der Präsenz, das sich bei der VR-Erfahrung einstellt, wird sich in Zukunft noch verfeinern. Das wird Einfluss darauf haben, wie wir Erinnerungen erzeugen oder wie wir unsere Grenzen als Menschen wahrnehmen – denn wir beginnen damit, über die Grenzen unseres physischen Körpers hinaus zu denken. Ich kann mir eine nicht allzu ferne Zukunft vorstellen, in der VR zusammen mit der 5G-Technologie endlich die Datenverarbeitungsleistung auf die Beine stellt, die notwendig ist, um VR wirklich zum Mainstream zu machen.

Nicht zuletzt stelle ich mir vor, dass sich XR weiter zu einer mehr auf den Menschen ausgerichteten Schnittstelle entwickeln wird. Im Moment kommunizieren wir mit einem Computersystem über eine Tastatur, eine Maus und einen oder mehrere Bildschirme. XR hat das Potenzial, die Art und Weise, wie wir mit Technologie und Daten umgehen, zu revolutionieren. Die Hardware wird definitiv kleiner oder gar nicht mehr notwendig sein. Und es wird mehr und mehr um die Erfahrung selbst gehen als darum, welche Mittel wir brauchen, um sie zu verwirklichen.

Abschließende Worte

Als Schöpfer*innen einer Technologie, die das Publikum in neue Realitäten führen soll, müssen wir sicherstellen, dass wir sie verantwortungsvoll und sinnvoll einsetzen. Wir müssen uns regelmäßig die Zeit nehmen, um zu überlegen, wie wir die Qualität und Umsetzung der von uns geschaffenen Erfahrungen verbessern können. Wir müssen uns ständig daran erinnern, dass die beste Art und Weise, unvergessliche Geschichten zu erzählen, darin besteht, dass wir selbst die Welt auf denkwürdige Weise erleben.

Das Leben leben. Über sich selbst hinaus träumen. Bessere Realitäten schaffen. Diese mit der Welt teilen.

Wenn Ihr daran interessiert seid, euer Wissen über dieses oder ein anderes Thema im Bereich XR zu erweitern oder Sie ein paar Beispiele der Anwendung von Augmented und Virtual Reality sehen möchten, würde sich unser vrisch-Team sehr freuen, von euch zu hören. Wir zeigen euch die vielen spannenden Möglichkeiten auf, wie immersive Technologien in zukünftige Projekte integriert werden können. Der Schritt in eine ganz neue Realität ist nur eine Nachricht weit weg. Kontaktiert uns jetzt!